Bewusstsein schaffen für Neurodiversität

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Du bist wertvoll. Du wirst gesehen.
Dein Struggle ist echt.

Manchmal musst du einfach genau diese Worte lesen. Besonders dann, wenn du das ständige Gefühl hast, dass du anders bist als andere, aber du kommst nicht darauf, woran das liegt.

Haftungsausschluss (muss leider sein): Ich bin kein Arzt und auch keine medizinisch qualifizierte Fachfrau. Wenn du gesundheitliche Probleme hast, mental oder körperlich, dann suche bitte Hilfe bei einem Profi. Diese Webseite kann keine medizinischen Ratschläge geben, nur eine grundlegende Übersicht und Beispiele dafür was es heißt, mit einem neurodivergenten Gehirn zu leben. Diese Übersicht ist keinesfalls vollständig, Symptome und Schweregrad variieren sehr stark individuell.

Dein Seelen-Tier: Ist es ein Bär, ein Wolf oder… ein Eichhörnchen?

Du kommst schon wieder zu spät zur Arbeit. Total gestresst suchst du deine Taschen ab, damit du deinen wichtigen Kram nicht liegen lässt: Geldbörse, Führerschein, Handy, Schlüssel… Och neh, nicht schon wieder! Wo sind diese verdammten Schlüssel denn jetzt schon wieder?!
Vergesslichkeit und Unorganisiertheit…

Auf dem Weg zur Arbeit fallen dir Kleinigkeiten auf, die niemandem sonst aufzufallen scheinen: das Schreien eines Babys, jemand, der laut in sein Handy spricht, laute Musik aus irgendeinem blechernen Lautsprecher, dieses nervige Kaugeräusch, dass der Typ neben dir beim Essen macht. Du fühlst Emotionen in dir aufsteigen, unerklärliche Wut und Aggression.
Hypersensibilität…

Bei der Arbeit sprichst du mit anderen Menschen: deine Kunden, Kollegen, dein Boss. Manchmal hast du den Eindruck, dass ihr nicht dieselbe Sprache sprecht, weil sie dich oft missverstehen. Oder sie sind sogar verärgert über etwas, dass du sagtest obwohl es dir vollkommen logisch erschien.
Soziale Schwierigkeiten…

Manchmal erwähnt jemand beiläufig ein Thema, eines deiner absoluten Fachgebiete. Bevor du dich selbst davon abhalten kannst, hältst du bereits einen ausführlichen Vortrag über dieses wundervolle Ding, von dem du soviel gelesen hast und was dich ohne Ende fasziniert. Nur um irgendwann festzustellen, dass deine Zuhörer dich ausdruckslos anstarren.
Info dumping…

Deine Aufgaben erscheinen langweilig und du kannst dich nicht dazu bringen, sie einfach zu erledigen. Irgendetwas in dir ist blockiert. Stattdessen singt dir dein Hirn den neuesten Ohrwurm in Dauerschleife während dir das rasselnde Surren der alten Klimaanlage zunehmend auf den Keks geht.
Aufmerksamkeitsdefizit…

Als du zurück zuhause bist fühlst du dich ausgelaugt und weißt nicht einmal warum. Deine Kollegen erzählen ständig, was sie alles nach der Arbeit noch machen: Sport, ein Konzert, ein Arzttermin und danach der Zumba-Kurs… Du fragst dich wo sie die ganze Energie hernehmen für all das. Du bist schon froh, wenn du einfach nur die einfachsten Dinge im Haushalt auf die Kette bekommst, aber selbst das ist manchmal zuviel.
Erschöpfung und Burn-Out-Symptome…

Du lässt dich aufs Sofa fallen um nur ein paar Momente Pause zu machen. Aber jetzt bist du unfähig, wieder aufzustehen. Endlich schaffst du es, deinen Hintern vom Sofa zu heben nachdem du gefühlt Stunden damit verbracht hast die Wände anzustarren. Und jetzt fühlst du dich furchtbar schuldig wegen deiner „Faulheit“.
Störung der Exekutivfunktionen…

Als du von einem Raum zum anderen gehst, verfängt sich dein Ärmel an der Türklinke und du versuchst ungeschickt dein Gleichgewicht zu behalten. Während du eine Tasse aus dem Schrank holst, stößt du dir deinen Kopf am Türrahmen.
Beinträchtigte Körperwahrnehmung alias Tollpatschigkeit…

Du liegst unter deiner kuscheligen Bettdecke und möchtest endlich schlafen. Aber dein Hirn entscheidet, dass jetzt der perfekte Moment ist um nochmal alle Situationen des Tages durchzugehen, in denen du überfordert warst mit sozialer Interaktion. Wieder und wieder. Außerdem ist der verdammte Ohrwurm zurück.
Grübeln…

„Na klar, kenn’ ich auch. Das passiert mir doch auch die ganze Zeit. Das bedeutet doch nicht, dass du eine Schraube locker hast oder so. Du bist nur nicht belastbar genug.“

Es stimmt, all diese Dinge sind normal – bis zu einem bestimmten Grad. Deshalb werden dir die Leute sagen, du sollst einfach „nicht so dünnhäutig sein“. Du kannst es auch deinem aktuellen Biorhythmus zuschreiben oder (wenn du eine Frau bist) den Hormonen. Trotzdem bleibt dieses nagende Gefühlt, dass du einfach nicht genug machst. Dass du dich nicht genug bemühst. Schließlich haben alle anderen ihr Leben im Griff, nur du schaffst es nicht die einfachsten Dinge hinzubekommen…

Anstatt dich selbst weiter zu zerfleischen könnte es klug sein zu erkennen, dass all diese Dinge nur einige der Symptome sind, die neurodivergente Menschen jeden Tag erleben. Und es gibt noch viele Symptome mehr, viel zu viele um sie hier alle aufzulisten.

Ja, so etwas wie „das normale Gehirn“ gibt es nicht, jeder kennt diese Probleme. Aber wenn sie so oft oder so heftig auftreten, dass es dein Leben oder deine Gesundheit beeinträchtigt, dann solltest du aktiv werden. Denn:

Der ständige Selbstzweifel und die unterschwellige Verzweiflung darüber, dass man „nicht richtig funktioniert“ laden ein paar enge Freunde von ADHS und Autismus ein: Depression und Angststörung.

Speziell bei Frauen, die meist nicht das hyperaktive Verhalten zeigen, dass bei Jungen und Männern mit ADHS oft typisch ist, ist Depression in der Regel die erste Diagnose. Die ADHS bleibt unbemerkt und die Frauen werden wegen ihrer psychischen Probleme behandelt, ohne, dass die darunterliegende Neurodivergenz erkannt wird. Verschärft wird das Problem noch dadurch, dass viele NDs (neurodivergente Menschen) in ihrer Kindheit Mobbing und Trauma erleben. Es ist notwendig ein Bewusstsein dafür schaffen, dass es eine große, unbekannte Anzahl von Erwachsenen gibt, die nicht diagnostiziert sind und leiden. Wenn du oder jemand nahestehendes psychische Probleme hat, dann suche bitte Hilfe. Bitte schäme dich nicht; es ist keine Schande zuzugeben, dass man hier und da Hilfe braucht. Extrem wichtig ist hier die Kommunikation, also zögere nicht, den Menschen in deiner Umgebung deine Bedürfnisse mitzuteilen.

Zum Beispiel:

  • das Bedürfnis einen ruhigen Ort aufzusuchen um sich nach einer Reizüberflutung zu beruhigen
  • das Bedürfnis klar und deutlich zu kommunizieren, ohne verwirrende Doppeldeutigkeiten
  • das Bedürfnis zu „stimmen“ (=selbst-stimulierendes Verhalten, oft durch sich wiederholende Bewegungen oder Geräusche oder anderes)

ADHS ist keine Krankheit, es ist ein anderes Betriebssystem im Kopf. Daher ist es auch nicht wirklich heilbar. Aber ein guter Therapeut kann helfen, Wege zu finden, den Alltag besser zu meistern und, was am wichtigsten ist, sich selbst besser zu verstehen.

Ein metaphorisches Kinderspielzeug

Du kennst sicher diese Babyspielzeuge: Eine Kiste mit Löchern in unterschiedlichen Formen in die man unterschiedliche Klötze reinsteckt. Ein Quadrat, ein Rechteck, ein Dreieck, ein Kreis, … Jetzt stelle dir eine Welt vor, die für Menschen gemacht wurde, die alle wie ein Quadrat aussehen. Überall gibt es Türen und Verfahren, die erfordern, dass du ein Quadrat bist.

Aber was, wenn du gar kein Quadrat bist? Was, wenn du von Geburt an ein Kreis bist? Dann wirst du nie in diese Welt passen, die speziell für Quadrate gemacht wurde. Das ist es, was neurodivergente Menschen jeden Tag erleben: eine Welt, die nicht für sie gemacht wurde. Sie geben sich jede erdenkliche Mühe um sich anzupassen. Sie versuchen so sehr, wie Quadrate zu wirken, dass es ihre Energie aufzehrt. Das nennt man Maskieren. Das kann für einige Jahre funktionieren aber irgendwann gibt es einen Punkt in ihrem Leben, an dem sie erkennen, dass es sie innerlich auffrisst und die Person verdrängt, die sie wirklich sind.

Nur wenigen neurotypischen („normalen“) Menschen ist dieser fortdauernde Überlebenskampf bewusst. Es wäre wundervoll, wenn mehr davon erfahren würden und sich ihrerseits bemühen, uns in der Mitte zwischen Kreis und Quadrat entgegen zu kommen. Wenn sie den Fakt akzeptieren würden, dass NDs in einigen Situationen nicht so belastbar sind, aber auch den Fakt wertschätzen würden, dass wir in individuell speziellen Bereichen überragende Leistungen erbringen können. Wenn wir zusammen eine Welt bauen könnten, die nicht nur quadratische Türen hat sondern auch kreisförmige und dreieckige und sternförmige Türen… so dass jeder und jede hineinpasst und das leisten kann, was er oder sie am besten kann. Anstatt weiterhin wertvolle Energie damit zu verschwenden etwas zu sein, was sie nicht sind.

„Jeder von uns hat ein unglaubliches Potenzial. Aber wenn ein Fisch daran gemessen wird, wie gut er auf einen Baum klettern kann, wird er immer denken, er wäre dumm.“

Hm, das war lang… und was jetzt?

Autismus und ADHS sind nicht die einzigen neurodivergenten Störungen. Legasthenie oder die Borderline-Persönlichkeitsstörung und auch Essstörungen und andere mehr findet man unter dieser Bezeichnung. Wenn du dich weiter in den medizinischen Hintergrund einlesen möchtest, dann lege ich dir die Seite ADxS.org ans Herz. Dort gibt es auch kostenlose Selbsttests (professionelle mit langem Fragekatalog, nicht die Kurztests mit nur fünf Fragen).

Über diesen Artikel

Erst im Herbst 2023 wurde mir klar, dass ich ADHS habe (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung). Ich habe 45 Jahre lang nicht gewusst, dass ich das habe, was medizinisch eine Störung genannt wird. Sicher, da gab es halt immer diese Anstrengung und dieses haarscharfe Vorbeischrammen am Burn-Out, aber erlebt das nicht jeder? Ja, schon, aber nicht in dieser Qualität und Häufigkeit. Die Erkenntnis, dass es einen greifbaren Grund für meine Quälerei gab war bahnbrechend. Wenn ich das eher gewusst hätte, dann hätte es mir viele Jahre des Leides erspart.

Meine Absicht ist es, ein wenig darüber aufzuklären was es bedeutet, mit einer neurodivergenten Störung zu leben. Es ist nicht besonders einfach (siehe oben, Kreis und Quadrat), aber die Lebensqualität kann sich stark verbessern, wenn du besser darin wirst, deine eigenen Bedürfnisse zu erkennen und endlich danach zu leben.

Ich möchte dich herzlich dazu einladen, dich mehr über ADHS und weitere neurodivergente Ausprägungen wie Autismus zu informieren. Wenn wir alle als Gemeinschaft akzeptieren, dass die Menschen unterschiedlich sind, nicht nur was ihre Hautfarbe angeht oder ihre sexuelle oder geschlechtliche Identität, sondern auch was ihre Hirnchemie betrifft, dann können wir viel Gutes bewirken

Wenn du neurotypisch bist, dann erinnere dich bitte daran, wenn du das nächste Mal jemanden siehst, der sich bei etwas schwer tut, oder in einer unerwarteten Weise auf etwas reagiert. Dankeschön! <3

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Wenn du mehr darüber lesen möchtest, wie es ist als spät-diagnostizierter Erwachsener mit ADHD zu leben, dann lies gern hier weiter.